27.02.2024 | Wichtige Aufgabe in der abgeschiedenen Bergwelt

Misoxer Wasser stabilisiert das Stromnetz

Netzregulierung heisst die Hauptaufgabe der Misoxer Kraftwerke. So bedeutend der Job ist, so unsichtbar erfüllen die Wasserkraftwerke ihre Aufgabe in der Abgeschiedenheit des Bündner Tals.

Wenn sich Autoreisende an Feiertagen vor dem Gotthard-Strassentunnel im Stau quälen, bietet sich die Ausweichroute über die A13 via Chur und den San Bernardino-Tunnel an. Seit über fünfzig Jahren verbindet der 6,6 Kilometer lange Strassentunnel den Kanton Graubünden mit seinem südwestlichsten Tal, dem Misox. Hier wechselt der Kanton Graubünden in seine dritte Landessprache: Italienisch. Der Lago d’Isola begrüsst die Reisenden kurz nach der südlichen Tunnelausfahrt und verleiht dem Skiort mit seinem Glitzern an sonnigen Wintertagen einen Hauch Glamour. 

Blick in die Kommandozentrale.
Netzstabilisierung als Hauptaufgabe

6,5 Millionen Kubikmeter Wasser fasst der Speichersee. Damit gehört er bei weitem nicht zu den grossen Playern in der Schweiz. Im Vergleich dazu verfügt Axpos jüngster Spross, der 2015 eingeweihte Muttsee des Pumpspeicherwerks Limmern, über ein drei Mal grösseres Speichervolumen. «Als Winterspeicher macht der Lago d’Isola tatsächlich keinen Sinn», gibt Armando Faccanoni unumwunden zu.

Entsprechend haben die Misoxer Wasserkraftwerke von ihrem Mutterkonzern Axpo eine andere, nicht weniger wichtige Aufgabe zugeteilt erhalten: «Wir stabilisieren das Stromnetz.» Mit ihrer Flexibilität bieten sich die beiden 40-Megawatt-Maschinengruppen in der Zentrale Soazza zur Netzregulierung geradezu an. «Als weiterer Vorteil speisen wir den Strom dabei direkt in das 220-kV-Netz ein.»

Das Stromnetz beruht darauf, dass es stets eine Frequenz von 50 Hertz (Hz) aufweist. So müssen Angebot und Nachfrage stetig aufeinander abgestimmt werden. Stimmt die vorgegebene Frequenz nicht, beeinträchtigt dies die Funktion einzelner elektrischer Geräte. Einigen mag es schon aufgefallen sein, dass die Küchenuhr am Backofen gerne mal falsch geht. Dies ist eine direkte Folge davon, dass Küchenuhren mit dem Stromnetz verbunden sind. Ein Blackout droht ab einer Frequenz von 47,5 Hz. In einem solchen Fall würden alle Kraftwerke vom Netz getrennt und die Stromversorgung müsste im Anschluss wieder neu aufgebaut werden. Ein solcher Ausfall muss mit aller Kraft verhindert werden. 

Armando Faccanoni, Betriebsleiter der Misoxer Kraftwerke.
Der Fahrplan kommt aus Baden

20 Kilometer talabwärts auf der A13, vorbei an den trotzigen Burgruinen des Castello di Mesocco, steht die Zentrale Soazza. Dass hier Elektrizität produziert wird, lässt einzig die Freiluft-Schaltanlage erahnen. Im mit Monitoren beladenen Kommandoraum, so gross wie ein Schulzimmer, herrscht trügerische Ruhe. Die Operateure arbeiten im 24-Stunden-Schichtbetrieb. «Ein Mann ist stets vor Ort, weitere sind abrufbar», erklärt Armando Faccanoni. Im Viertelstundentakt gibt das «Dispatching» in der Axpo-Netzleitstelle in Baden den Takt vor. «Die Pläne kennen wir in der Regel einen Tag im Voraus. Aber es kann auch vorkommen, dass wir kurzfristige Änderungen erhalten.»

Diverse Monitore zeigen Live-Bilder diverser Webcams rund um die Kraftwerksinfrastruktur sowie aktuelle Werte und den Füllstand der Gewässer. Das Wasser aus dem Lago d’Isola wird mehrfach verwendet: Das erste Mal in der Kavernenzentrale Spina in Pian San Giacomo, wo sich zudem ein Ausgleichsbecken befindet. Von dort fliesst das Wasser durch das Berginnere per Stollen zum Wasserschloss oberhalb von Soazza, von wo es bei Bedarf per Druckwasserleitung über ein Gefälle von 700 Metern die zwei Maschinengruppen antreibt, die in der Kaverne ihrer Dinge harren.

Innerhalb von sechs Minuten können die Maschinengruppen einzeln in Vollbetrieb gehen. «Weil sich die Maschinenkaverne tief im Berginnern befindet, merken wir hier im Bürogebäude ohne Planvorgaben nicht mal, wenn unsere Turbinen ferngesteuert anspringen», sagt Armando Faccanoni. So verbirgt sich dem menschlichen Auge, was im Misox für das Schweizer Stromnetz getan wird. 

Die einzige Staumauer mit Langlaufloipe.
33 wichtige Arbeitsplätze für das Bündner Tal

Lediglich 1,5 Stunden lang scheint hier an Wintertagen die Sonne auf Bürotische und Werkbänke. Vor- und nachher fristet das unscheinbare Gebäude im engen Tal ein Schattendasein. 33 Arbeitsplätze, verteilt auf drei Kraftwerksanlagen sind es. «Axpo ist im Misox ein wichtiger und guter Arbeitgeber», betont Armando Faccanoni. Der in Bellinzona wohnhafte Elektroingenieur stiess vor sechs Jahren, nach Abschluss seiner Arbeiten für die Alp Transit am Gotthard-Basistunnel, zum Energiekonzern.

Aus dem Kommandoraum in Soazza werden auch die beiden anderen Kraftwerksanlagen gesteuert. Das Kraftwerk Sassello der Calancasca SA und die Anlagen der Elettricità Industriale SA (ELIN) ein paar Kilometer südlich in Lostallo und Grono. ELIN gehörte einst zum ehemals grössten Tessiner Industrieunternehmen Monteforno. Nach einem Besitzerwechsel schloss der Industriekonzern Von Roll das Stahlwerk 1995. Die Wasserkraftanlagen standen zum Verkauf. Axpo liess sich nicht zwei Mal bitten, ist heute Mehrheitsaktionärin aller drei Firmen, betreibt die Anlagen und sorgt für den notwendigen betrieblichen Unterhalt. 

Maschinenkaverne.
Hand in Hand mit der Natur

Neben der Instandhaltung und Modernisierung der Anlagen beschäftigt sich Armando Faccanoni derzeit mehrheitlich mit Renaturierungsprojekten und Ausgleichsmassnahmen in Bezug auf Wasserstandschwankungen. «Bei der Netzregulierung kann es unterhalb der jeweiligen Wasserrückgaben zu einem starken Anschwellen oder Absinken der Moesa kommen – mit ungünstigen Auswirkungen auf die Umwelt.» Ein unerwünschter Effekt, der künftig sogar noch öfters auftreten dürfte. Denn je mehr unregelmässig anfallende Sonnen- und Windenergie ins Stromnetz eingespeist wird, desto eher muss netzregulierend eingegriffen werden. «Das Thema ist erkannt und wir arbeiten intensiv an Lösungen», sagt der Betriebsleiter.

Faccanoni scheut sich dabei nicht vor unkonventionellen Lösungen. Aktuell gibt es Überlegungen, gemeinsam mit der in Lostallo ansässigen Lachsverarbeiterin «Swiss Lachs» einen ausgleichenden See oder einen speziellen Kanal zu bauen. Die kühlen Wassertemperaturen des Lago d’Isola wären nahezu perfekt für die Fischverarbeitung. «Gerade hier im Misox, wo sich Unternehmen nur selten niederlassen, sind solche Kooperationen viel Wert», betont Armando Faccanoni. Stabilität und Sitzleder sind wichtige Argumente, welche die Misoxer Kraftwerke in die Waagschale werfen können. Wasserkraftwerke sind immer Langfristinvestitionen und versprechen dem Tal Arbeitsplätze und solide Strukturen.

Wie wichtig Axpo als Arbeitgeberin ist, verrät ein Blick in die mit jungen Menschen gefüllte Werkstatt in der Zentrale Soazza. Die jungen Handwerker profitieren vom Wissenstransfer, können sich über Jahre als Know-how-Träger etablieren und pflegen die Anlagen oft ein halbes Arbeitsleben lang.

Derweil Ferienreisende auf der A13 wohl einzig am unbehinderten Verkehrsfluss interessiert sind, sorgt die Misoxer Crew dafür, dass in der Schweiz auch der Strom im Fluss bleibt.  

Mehr zum Thema Wasserkraft?

Rund 60 Anlagen umfasst der Hydro-Kraftwerkspart von Axpo (Eigentum und Beteiligungen). In einer «Tour de Suisse der Wasserkraft» zeigen wir, was diese Anlagen so besonders macht und wie wichtig sie für eine sichere und nachhaltige Stromversorgung der Schweiz sind. Weitere Artikel aus dieser Serie:

Erstes Partnerwerk der Schweiz

Von der Wiege und der Wucht

Wasserstoff aus dem Rhein

Kraftwerk Rüchlig

Und hier gibt es mehr Informationen um Thema Axpo Wasserkraft

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